Tafelgefahr

Die Schule fing wieder an, und für Mort war sie nun verständlicherweise schrecklicher denn je. Er saß als der geschockte, verstörte beste Freund des Verunglückten regungslos auf seinem Platz, zum Teil vorgetäuscht, um mit niemandem reden zu müssen. Es funktionierte; er vereinsamte im gleichen Maße, wie einige andere sich zunehmend zurückhalten mussten, ihn zu verspotten.

In einer Schulstunde, vielleicht war es Geographie, vielleicht Latein gewesen, er wusste es nicht mehr, passierte etwas Erstaunliches. (Das Erstaunlichste seit dem Frühstück, als er mit dem Mann in seinem Daumen über Tapezierung diskutiert hatte.) Er wurde an die Tafel gerufen, mutmaßlich zur Beantwortung irgendeiner sinnlosen Frage, wessen durchzuführen er nicht imstande war. Also stand er da und täuschte einen kataplexen Anfall vor, in der Hoffnung, zum Schularzt geschickt zu werden. Zu seinem Pech war das gegenwärtige Schulfach, wie ihm nun einfiel, Psychologie. Der Lehrer, eine schlaue, aber grundböse Person, musste ihn durchschaut haben, denn er sagte: „Ich habe dich durchschaut! Hör auf deine angeblichen psychischen Schäden als Vorwand auszunutzen, in der Schule geschont zu werden! Beantworte die Frage oder du bekommst ein Minus, wie alle anderen auch!"
„Wir bekommen alle ein Minus?", fragte eines der Mädchen, das wie Mort des öfteren Probleme aufwies, den Gedanken anderer (und vermutlich auch ihren eigenen) folgen zu können.

Der Lehrer überhörte die Frage geschickt und fuhr unbeirrt fort, von fünf abwärts zu zählen. Er hatte schon früh in seiner Laufbahn entdeckt, wie schön man Schüler damit unter Druck setzen kann.

„Fünf.", sagte er. Mort blickte in die Reihen seiner Schulkollegen. Ratlosigkeit, auf beiden Seiten.
„Vier.", sagte der Lehrer, und jetzt bemerkte Mort, dass er zählte.
„Drei." Nun fiel Mort ein, wieso der Lehrer zählte.
„Zwei." Ihm fiel auch die Frage wieder ein.
„Eins." Er überlegte.

Der Lehrer sah ihn kurz an, war sich Morts Versagens sicher und fügte eine weitere kurze Pause hinzu, bevor er die Zunge nach oben bewegte, um das vernichtende „Null" auszusprechen. Exakt in diesem Moment fiel Mort die Antwort auf die Frage ein.
„Psychoneuroendokrinologie!", stieß er gehetzt hervor.

Doch wie man leicht erkennen kann, dauert es erheblich länger, „Psychoneuroendrokrinologie" zu sagen, als „Null", und das bedeutete, Minus.

„Zu langsam. Minus!", rief der Lehrer, das Gesicht in der Anstrengung, seine gute Laune zu verbergen, seltsam verzogen.
„Sidney tot, Freund tot, Schock, was auch immer! Ich will es wirklich nicht mehr hören! Du wirst trotzdem lernen müssen, auch mit deinen geistigen Schäden!"

Es war erstaunlich, dass dem Lehrer genau in diesem Moment die Tafel auf den Kopf fiel.

Mort fand es noch erstaunlicher, dass das genau das war, was er sich gewünscht hatte.

Er fühlte sich schuldig, als die Rettung kam, doch er genoss es.


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